Stellungnahme

Stellungnahme als amicus curiae zu der anstehenden Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamtes mit dem Aktenzeichen G 1/19

Der Bundesverband Deutscher Patentanwälte nimmt nach Artikel 10 der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer des EPA wie folgt Stellung zu der anstehenden Entscheidung zu Aktenzeichen  G 1/19.

Die Vorlagefragen lauten:

Frage 1:    Kann – bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit – die computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens durch Erzeugung einer technischen Wirkung, die über die Implementierung der Simulation auf einem Computer hinausgeht, eine technische Aufgabe lösen, wenn die computerimplementierte Simulation als solche beansprucht wird?

Frage 2:    Wenn die erste Frage bejaht wird, welches sind die maßgeblichen Kriterien für die Beurteilung, ob eine computerimplementierte Simulation, die als solche beansprucht wird, eine technische Aufgabe löst? Ist es insbesondere eine hinreichende Bedingung, dass die Simulation zumindest teilweise auf technische Prinzipien gestützt wird, die dem simulierten System oder Verfahren zugrunde liegen?

Frage 3:    Wie lauten die Antworten auf die erste und die zweite Frage, wenn die computerimplementierte Simulation als Teil eines Entwurfsverfahrens beansprucht wird, insbesondere für die Überprüfung eines Entwurfs?

Die Frage 1 lautet, ob eine computerimplementierte Simulation eines technischen Systems oder Verfahrens durch Erzeugung einer technischen Wirkung eine technische Aufgabe lösen kannwenn die computerimplementierte Simulation als solche beansprucht wird.

Die Randbedingung, dass der Anspruch auf eine computerimplementierte Simulation als solche gerichtet ist, wird so verstanden, dass die Auswirkung, die der beanspruchte Gegenstand (Simulation) auf die gegenständliche Umwelt ausübt, lediglich der ist, Informationen, nämlich das Ergebnis der Simulation, bereit zu stellen.

Im Zusammenhang mit der Auswirkung auf die gegenständliche Umwelt wird in der Vorlageentscheidung T0489/14 u. a. unter Ziffer 11 von einem „Link“ zur physikalischen Realität gesprochen:

[…] a technical effect requires, at a
minimum, a direct link with physical reality, such as a
change in or a measurement of a physical entity […]

Dieser Würdigung steht der vorliegende Sachverhalt entgegen. Hier wird ausgehend von virtuellen Ausgangsgrößen durch eine Simulation eine Information bereitgestellt. Diese Information ist für sich das Ergebnis der Simulation, ohne dass diese Information in irgendeiner Weise die gegenständliche Welt (physical reality) beeinflusst.

Hierzu werden zwei Auffassungen aus früheren BK-Entscheidungen zitiert, die exemplarisch den Abstand der in der Vergangenheit vertretenen Positionen aufzeigen:

T 1227/05:

„[…] Das computergestützte Simulationsverfahren zum virtuellen Ausprobieren stellt somit ein praktisches und praxisrelevantes Werkzeug des Elektroingenieurs dar. Dieses Werkzeug ist gerade deshalb wichtig, weil in der Regel keine rein mathematische, theoretische oder gedankliche Methode existiert, die eine vollständige und/oder schnelle Voraussage des Schaltkreisverhaltens unter Rauscheinflüssen liefern würde […]“.

T 1670/07:

“[…] Second, the decision appears to rely on the greater speed of the computer-implemented method as an argument for finding technicality. But any algorithmically specified procedure that can be carried out mentally can be carried out more quickly if implemented on a computer, and it is not the case that the implementation of a non-technical method on a computer necessarily results in a process providing a technical contribution going beyond its computer implementation […]”

Beide Zitate scheinen auf den ersten Blick Unterschiede der in der Vergangenheit vertretenen Standpunkte wiederzugeben. Aus unserer Sicht besteht in den dargestellten Bewertungen der beiden Entscheidungen jedoch ein wesentlicher Unterschied im relevanten Sachverhalt. Bei der T 1227/05 wird nicht allein auf die Computerimplementierung der Simulation abgestellt. Vielmehr wird das technische System / der technische Prozess (dort: der Schaltkreis) für die Bewertung ausdrücklich mit einbezogen. Bei der Simulation ist von dem technischen System / dem technischen Prozess zunächst eine Analyse zu erstellen, auf deren Grundlage ein mathematisches Modell des technischen Systems / des technischen Prozesses erstellt wird. Dieses mathematische Modell kann analytisch sein im Sinne eines in sich geschlossenen Gleichungssystems oder ggf. auch rein numerisch. Es steht außer Zweifel, dass ein Schaltkreis ein technisches System ist. Wie in der T 1227/05 festgestellt, ist es für den technischen Entwicklungsprozess wesentlich, das Schaltkreisverhalten durch Simulationen zu testen. Hierzu ist der Schaltkreis zu analysieren, um diesen in einem mathematischen Modell beschreiben zu können. Dies führt zu dem – aus unserer Sicht zutreffenden – Ergebnis, dass eine solche Simulation als technisch anzusehen ist. Die Analyse des technischen Systems / des technischen Prozesses ist aus unserer Sicht bei der Frage der Bewertung der Technizität sowie nachfolgend auch bei der Frage der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit mit einzubeziehen.

Grundsätzlich dürfte es keine erfinderische Tätigkeit darstellen, ein bekanntes (oder sich in naheliegender Weise ergebendes) mathematisches Modell eines technischen Systems / eines technischen Prozesses auf einem Computer zu implementieren. Es geht bei diesem Schritt dann „nur noch“ um handwerkliche Maßnahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs des Computers durch eine geeignete Programmierung.

Wenn das mathematische Modell so dargestellt wird, dass die Ressourcen des Computers besonders effizient genutzt werden, wäre zu prüfen, ob dies bereits eine erfinderische Tätigkeit bei der Ableitung des mathematischen Modells begründen kann.

Die Entscheidung T1670/07 kommt zu dem Ergebnis, dass der Computerimplementierung dort die Technizität abgesprochen wurde. Allerdings wird bei dieser Entscheidung überhaupt nicht einbezogen, inwieweit das der Programmierung des Computers zugrunde liegende mathematische Modell bereits einen technischen Ursprung hat.

Letztlich resultierte die Technizität bei der Entscheidung T 1227/05 auf dem zugrunde liegenden mathematischen Modell. Insofern löst sich der vermeintliche Unterschied in den Bewertungen der beiden genannten Entscheidungen auf, weil die zu bewertenden Sachverhalte unterschiedlich waren.

In der Entscheidung T0489/14 wird bereits in Ziffer 4ff. aus den Grundsätzen der Entscheidung T1670/07 abgeleitet, dass auch in diesem Fall keine Technizität vorliegt. Das Merkmal „computerimplementiert“ wird als einziges technisches Merkmal der Simulation angesehen, ohne dass geprüft wird, ob das zu Grunde liegende mathematische Modell – insbesondere die Ableitung dieses mathematischen Modells – zur Technizität beiträgt.

Nach der Darstellung der T0489/14 stellen alle anderen Verfahrensschritte der Simulation rein geistige Tätigkeiten dar, da sie „mit Bleistift und Papier“ gelöst werden könnten – zumindest grundsätzlich. Diese geistigen Tätigkeiten seien jedoch ebenfalls vom Patentschutz ausgeschlossen. Die Komplexität des Problems allein sei dabei kein ausreichender Grund, den Patentierungsausschluss für geistige Tätigkeiten zu umgehen.

Nach unserer Auffassung fehlt es hierbei an einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob das zugrunde liegende System bzw. der zugrunde liegende Prozess „technisch“ ist. In diesem Fall wäre nach unserer Auffassung die Analyse des technischen Prozesses / des technischen Systems zur Gewinnung des mathematischen Modells eine Leistung auf technischem Gebiet. Die notwendigen Maßnahmen zur Gewinnung des mathematischen Modells müssten damit – soweit es sich um einen technischen Prozess oder ein technisches System handelt – nach unserer Auffassung als technische Maßnahmen in die Bewertung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit einbezogen werden.

Aus diesen Gründen halten wir es nicht für sachgerecht, auf die Implementierung einer Simulation auf einen Computer für sich allein abzustellen. Vielmehr ist das zugrunde liegende mathematische Modell in die Bewertung mit einzubeziehen. Soweit das zugrunde liegende mathematische Modell bereits bekannt ist oder sich zumindest in naheliegender Weise ergibt, dürfte die Computerimplementierung der Simulation dann durchweg nicht mehr sein als der bestimmungsgemäße Gebrauch eines Computers.

Der Bewertung in Ziffer 4 der Vorlagentscheidung mangelt es nach unserer Auffassung an einer Auseinandersetzung mit der Frage, ob das zugrunde liegende mathematische Modell wegen eines technischen Beitrags bei der Bewertung der erfinderischen Tätigkeit mit zu berücksichtigen ist.

Im vorliegenden Fall könnte es beispielsweise für die Simulation ein relevanter Gesichtspunkt sein, ob es naheliegend war, das Simulationsergebnis zu erlangen, indem das Verhalten jeder einzelnen Person – ggf. auch als Reaktion im Sinne einer Wechselwirkung auf das Verhalten anderer Personen – simuliert wird oder eventuell doch von vorneherein ein mathematisches Modell eines „Schwarmverhaltens“ abgeleitet wird. Bei dieser Frage wäre dann in einem ersten Schritt zu prüfen, ob es sich hierbei um eine technische Frage handelt. Wenn dies keine technische Frage wäre, könnte dieser Gesichtspunkt zur Technizität und damit auch zur Bewertung der Neuheit und erfinderischen Tätigkeit im patentrechtlichen Sinne nichts beitragen.

Soweit in der Vorlageentscheidung ausgeführt wird, eine Simulation der in Rede stehenden Art könne schließlich auch lediglich dazu genutzt werden, rein theoretische Wissenschaft durchzuführen oder als Bestandteil eines Computerspiels zu dienen, führt dies nach unserer Auffassung nicht zu einer anderen Einschätzung. Wie ausgeführt ist darauf abzustellen, ob der Analyse zur Aufbereitung des mathematischen Modells ein technisches System bzw. ein technischer Prozess zugrunde liegt. Damit ist nach unserer Auffassung eine Öffnung für eine Patentierung von Simulationen theoretischer wissenschaftlicher Betrachtungen sowie von Computerspielen ausgeschlossen, weil es insoweit an dem technischen Charakter des zugrunde liegenden Systems bzw. Prozesses fehlt.

Derartige Simulationen technischer Systeme oder Prozesse gibt es nicht nur auf dem Gebiet der Elektrotechnik. Andere Beispiele sind:

  1. Berechnungen von Bauteilen im Maschinenbau, beispielsweise mittels der Methode der finiten Elemente,
  2. Simulationen von Windlasten bei Bauwerken wie beispielsweise Hochhäusern und Brücken oder auch Kränen.

Auch Computerimplementierungen von Simulationen solcher technischer Systeme bzw. Prozesse sollten grundsätzlich dem Patentschutz zugänglich sein. Eine ausufernde Patenterteilung in diesen Gebieten bliebe ausgeschlossen, weil es unverändert die weitere Voraussetzung gibt, dass die Analyse und Aufbereitung des mathematischen Modells erfinderisch im Sinne des Patentgesetzes sein müssten.

Eine Patentierung von einer bestimmungsgemäßen Anwendung der bekannten Verfahren bliebe damit ausgeschlossen. Sind die Analyse und Aufbereitung des mathematischen Modells hingegen erfinderisch, halten wir es auch in diesen Fällen für sachgerecht, dass der Erfinder bzw. sein Rechtsnachfolger die Möglichkeit hat, hierfür einen Patentschutz zu erlangen.

Dies gilt aus unserer Sicht allgemein, soweit die Simulation technische Systeme oder Prozesse betrifft.

Antwort zu Frage 1

Die erste Frage ist somit so zu beantworten, dass für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bei einer Beanspruchung der computerimplementierten Simulation als solcher die Möglichkeit besteht, dass neben der computerimplementierten Simulation als solcher ggf. auch eine Analyse im Sinne einer Aufbereitung eines mathematischen Modells eines technischen Systems oder Verfahrens zur Erzeugung einer technischen Wirkung beiträgt.

Die Ausführungen zur Einbeziehung der Analyse des technischen Systems / des technischen Prozesses beantworten im Wesentlichen auch bereits die Frage 2.

In diesem Zusammenhang stellt der konkrete Fall, der der Vorlageentscheidung zugrunde lag, ein schwieriges Beispiel dar, bei dem die Analyse und die Aufbereitung des mathematischen Modells u.U. auf nicht-technischem Gebiet liegen. Wir halten diesen Standpunkt bei einem System durchaus für vertretbar, das sich auf die Beschreibung menschlichen Verhaltens bezieht.

Die Antwort der Großen Beschwerdekammer auf die Vorlagefrage sollte nach unserer Auffassung auch für solche Fallkonstellationen rechtssetzend sein, bei denen die Analyse und die Aufbereitung des technischen Systems bzw. des technischen Prozesses zur Ableitung des mathematischen Modells für sich technischen Charakter haben.

Wir wollen zur Verdeutlichung unsere Einschätzung zu einem veränderten Sachverhalt darlegen, der in der Praxis technischer Fragestellungen häufig vorkommt. Es geht dabei um die Simulation eines komplexeren technischen Systems. Dies ist in der Praxis eine häufige Problemstellung in der Steuer- und Regelungstechnik. Es ist essenzieller Bestandteil der Beschreibung eines Regelkreises, das zu regelnde technische System in seinem Zeitverhalten mittels eines mathematischen Modells zu beschreiben. Nur damit lässt sich ein Regelkreis berechnen, bei dem ein Regler mit einem vorgebbaren Zeitverhalten mit diesem System in dem Regelkreis „gekoppelt“ wird, um das System in einen stabilen Zustand zu überführen. Bei der Entwicklung des Reglers wird das Gesamtzeitverhalten simuliert, um den Regler so zu konfigurieren, dass der konfigurierte Regler möglichst kurzfristig und möglichst fehlerfrei im realen Betrieb gleich (d. h.: unmittelbar nach der Inbetriebnahme) zu einem stabilen Zustand des Gesamtsystems führt.

Dieser „Link“ in die reale Welt findet jedoch noch keine Beachtung bei der Simulation. Diese steht zunächst „für sich allein“, auch wenn diese dazu vorgesehen ist, den konfigurierten Regler später in den realen Prozess einzubinden. Nach unserer Auffassung kann es für die Bewertung der erfinderischen Tätigkeit nicht darauf ankommen, ob es bei der Konfigurierung des Reglers im Simulationsstadium bleibt oder ob dieser später tatsächlich im realen Prozess verwendet wird. Dies führt zu der Konsequenz, dass die Ableitung des mathematischen Modells als wesentlicher Bestandteil der Konfigurierung des Reglers eine technische Problemstellung ist.

Eine Berücksichtigung der Ableitung des mathematischen Modells bei der Frage der erfinderischen Tätigkeit kann auch nicht dazu führen, dass damit eine Öffnung der Frage der Patentierbarkeit hin zu Geschäftsmodellen oder Spielideen führt. Bei diesen „Anwendungsfällen“ fehlt es dem zu simulierenden System an der Technizität.

Antwort zu Frage 2

Die Frage 2 ist aus unserer Sicht so zu beantworten, dass es wesentlich darauf ankommt, ob das für die Durchführung der Simulation zu analysierende System bzw. der zu analysierende Prozess technischen Charakter haben. Wenn dies der Fall ist, liegt nach unserer Auffassung die Analyse und Aufbereitung zur Ableitung des mathematischen Modells ebenfalls auf technischem Gebiet.

Antwort zu Frage 3

Aus unserer Sicht besteht kein Unterschied, ob es bei der Simulation um die Überprüfung eines Entwurfes bzw. eines Entwurfsverfahrens geht oder um die Simulation eines realen Prozesses bzw. Systems.